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Michelsberg





Wallfahrt und Wunder
von Ludwig Mathar
veröffentlicht 1953

Über den Bergen und Wäldern der östlichen Voreifel thront gewaltig der Michelsberg. Bescheiden duckt sich das Dörfchen Mahlberg am Südhang seiner kahlen Kuppe. Doch der Name verrät, daß hier oben einst, vor undenklichen Zeiten, unsere Vorfahren ihr 'Mal', ihr `Thing', ihr Opfer darbrachten, ihr Gericht abhielten. Römische Krieger hatten auf der Kuppe ihre Warte. Der Benefiziarier, der Veteran der ersten Bonner Legion, hielt wie ein Adler im Horst an der Römerstraße Trier-Bonn treue Wacht. Von hier aus spähten die Franken, die Eroberer, tief ins Eifelland.

Vielleicht haben die Prümer Mönche, als sie um das Jahr 840 unter Abt Markward in dem geschenkten Peterstal die 'Nova Cella' - das Neue Münster - gründeten, den Mahlberg dem Führer der himmlischen Heerscharen, dem heiligen Erzengel Michael, geweiht. Im 16. Jahrhundert ward dem heiligen Michael auf der Bergkuppe sogar ein Kirchlein errichtet. Von nah und fern zogen nun die Pilger an seinem Festtag, am 29. September, zum Michelsberg hin.

Doch laßt mich getreulich berichten, was ich auf einer Wallfahrt zum Michelsberg von dem geschichtskundigen Direktor des Münstereifeler Gymnasiums, dem unvergeßlichen Peter Meyer, erfuhr.

Hurtig schritten wir selbzweit an einem heiteren, milden Michelstag durch das Orchheimer Tor in das herbstbunte Land hinein. So kamen wir bis zur Mühle im Erfttal, wo die Straße nach dem Pfarrdorfe Schönau weiterging und der steile Pfad zum Michelsberg hinauf abzweigte. Dieser jähe Wiesenpfad zwang den drauflos stürmenden Direktor zum Langsamschreiten. Plötzlich blieb er stehen. "Wissen Sie denn überhaupt was vom Michelsberg, Sie Bücherwurm?" Da war ich aber doch nahe daran, beleidigt zu sein. Hatte ich auch keine Fakultät in Geschichte *), so war ich doch genug in der Geschichte der Heimat bewandert, um Bescheid über den alten Malberg, den Wodansberg, den Michelsberg zu wissen.

"Das mit dem Malberg, dem Wodansberg, der durch die Prümer Mönche zum Michelsberg wurde, das wissen Sie bestenfalls", knurrte der Direktor, "aber daß der Michelsberg die Stadt Bad Miinstereifel und unser Gymnasium einmal gerettet hat, das wissen Sie natürlich nicht. Der Michelsberg wurde dadurch zum Berg der Rettung, zum Heiligen Berg!"

Ich schwieg beschämt: Das wußte ich allerdings nicht. Daß die Franzosen 1689 auch die Burg Münstereifel durch Brand zerstört und das Städtchen verwüstet hatten, das war mir natürlich nicht unbekannt.

Seinen Schritt auf dem steilen Wiesenpfad beträchtlich mäßigend, erklärte der Direktor fast feierlich: "Hier in Münstereifel wollten sie den Anfang machen, die Welschen, um dann eine ganze Reihe von feurigen Fackeln durch die Eifel hindurch bis zu den Ardennen anzuzünden. Ein Kunststück, mit einer Masse von Kanonen morsches Gemäuer zusammenzuschießen! Schurkerei war's, dieses Brennen und Sengen, Plündern und Verwüsten mitten im deutschen Land!"

Der Herr Direktor geriet mächtig in Fluß: "In Münstereifel hatte man dem Jülicher Kommandanten nur ein paar Stunden bewilligt. Wenn er dann nicht kapituliere, würde man das ganze Städtchen an allen vier Ecken anstecken und die Burg, das Eulennest, einfach in die Luft sprengen. Ließ sich aber nicht einschrecken, der Kommandant, der alte Haudegen. Und die Bürger, die Tuchmacher, die Lohgerber, die Weißgerber und die übrigen Zünfte schworen in der Stiftskirche aufs Evangelium, die Stadt zu halten bis zum letzten Mann. Der Feind dachte jedoch nicht daran, seinen Hals an ein Erklettern der Mauern zu wagen. Oben auf dem Nöthener Berg hatte er seine Artillerie in Schanzen aufgepflanzt und feuerte in aller Gemütsruhe auf die wehrlose Stadt hinab. Er war entschlossen, keinen Stein auf dem anderen zu lassen. Vergebens gellte im Türmchen der Gymnasialkirche das Donatusglöckchen erbärmlich um Hilfe. Vergebens lagen die Stiftsherren in der Unterkirche stundenlang auf den Knien.

In der Heisterbachergasse sang ein altes Weibchen, eines Schneider frommgläubige Witwe, aus einem zerlesenen Gesangbuche mit dünner, zitternder Stimme, indes die Kugeln über das niedere löchrige Dächlein ihres Häuschens hinwegkrachten:


0 unbesiegter Gottesheld,
Sankt Michael!
Komm 'uns zur Hilf, zieh' mit ins Feld,
hilf uns hier kämpfen, die Feinde dämpfen,
Sankt Michael!

Söhne hatte sie keine, die draußen auf den Mauern standen, Töchter ebenfalls keine, für deren Ehre sie zu bangen brauchte, in ihrem Häuschen gab's kaum etwas von Wert, was Plünderer hätte reizen können. Was bedeutete denen ihr vergilbter Brautkranz unter Glas? Und doch wagte sie ihr Leben für


Die Wallfahrt zum Michelsberg hat eine lange Tradition.

die Rettung der Stadt. Und doch schlich sie sich im Abenddämmer, mit Erlaubnis des Torkommandanten, aus dem Heisterbacher Tor nach dem Dörfchen Hohn hinaus. Sie trug ein Körbchen im Arm, als ob sie Kräuter für die Verwundeten sammeln wollte.

Ein Franzos' hielt sie unweit des Dorfes an. Was sie da so herumstrolche? Da lachte das verrunzelte Weibchen verschmitzt: "Kräuter für ein Liebestränkchen such' ich, Herr Soldat! Will er eins, wenn ich zurückkomme?"

"Liebestränkchen? Dann such', soviel du finden kannst!" Und er ließ sie unbehelligt laufen. Einem anderen, dem sie in die Hände fiel, gaukelte sie ein Mittel vor, das hieb- und stichfest mache und das sie ihm bringen wolle. So entkam sie vor dem Dorf Hohn den Verfolgern. Als sie auf der Höhe schreckensbang zurückschaute, da ging unter einem schrecklichen Donnerschlag das große Dach des Burgpallas in Flammen auf.

Aber wie sah das Dörfchen Hohn aus! Das war, als hätte ein Riesenbesen alles herausgefegt. Keine Tür, kein Fenster mehr in den Angeln. Kein Klückchen mehr im Hühnerstall. Kein Milchtöpfchen mehr im Küchenschrank. Der Schrank selbst längst als Brennholz am Lagerfeuer verkohlt. Keine Sterbensseele mehr im Dorf.


"Es ist Zeit!" murmelte das alte Drückchen, "hilf, Sankt Michael, hilf!"

Und sie lief, so schnell sie ihre schwachen Beine tragen konnten zur Erftbrücke von Eicherscheid hinab. Wie es in Eicherscheid aussah, das wollte sie gar nicht mehr sehen. Sie hatte genug des Greuels und des Elends geschaut.

Und sie lief und lief den Eierberg hinauf, bis sie zu dem Dörfchen Mahlberg kam. Es war stockfinstere Nacht. Sie stolperte sich die Knie wund über Stock und Stein. Sie zerfetzte sich ihren schäbigen Rock an Disteln und Dornen, die überall im Überfluß wucherten; denn wer hatte in all diesen Kriegsjahren säen und bauen können?

Mehr als einmal blieb sie stöhnend mitten auf einem steinigen Acker liegen. Denn den Weg hatte sie längst verloren. Da verschnaufte sie ein wenig, wischte sich mit ihrer schmutzigen, runzligen Hand die Tränen und wimmerte leise vor sich hin:


Groß ist dein' Macht, groß ist dein Heer,
Sankt Michael!
Groß auf dem Land, groß auf dem Meer!
Hilf uns hier kämpfen, die Feinde dämpfen,
Sankt Michael!


Dann hatte sie auf einmal wieder neuen Mut. So langte sie denn im Morgendämmern im Dörfchen Mahlberg an.

Sperrangelweit stand bei Wirt Goar Mutscheid die Tür auf: In dem ganzen Haus aber war keine Sterbensseele zu sehen. Man gewahrte nur alle Anzeichen einer übereiligen Flucht. Die übrigen Häuser des Dörfchens waren ebenfalls von ihren Bewohnern verlassen. Was sich mittragen und mitschleppen ließ an Habe und Vieh war fort. Die Mahlberger waren wohl auf die nahe Feste Aremberg geflüchtet. Auch der Küster der Michaelskirche hatte Reißaus genommen. War ja sowieso kein Held, der Chrysanth. Aber wer sollte denn oben auf dem Turm das Sturmglöckchen läuten?

Das Drückchen war schon auf dem Wege zur Kapelle.

Wer soll denn oben auf dem Turm das Warnfeuer anzünden?

Ach was! Gab's im nahen Wald nicht Reisig und Holz genug?

Und sie lief bergauf, so rasch sie ihre wackligen Beine tragen wollten. Einer muß es doch tun! Ha! Die Tür des Kirchleins war verschlossen! Da stürzten dem armen Weibchen die Tränen über die runzligen Wangen: Dann ist ja alles umsonst!

Aber die Sturmglocke muß doch läuten, das Sturmfeuer muß doch lodern! Und sie faltete die schwieligen, runzligen Hände mit aller Innigkeit:


Groß, starker Held, ist deine Kraft,
Sankt Michael!
Ach, komm' mit deiner Ritterschaft!
Hilf uns hier kämpfen, die Feinde dämpfen,
Sankt Michael!


Und sie warf sich gegen die Tür mit ihrer vom Schnaufen und Laufen ganz erschöpften schwachen Weibchenskraft. Wahrhaftig! Da wich das wurmstichige Holz aus den rostigen Angeln. Und das Drückchen ergriff den dünnen Glockenstrang, der mitten im Kirchlein aus dem Türmchen herabhing, und läutete, läutete mit Riesenkraft. Denn Riesenkraft hatte ihr das Weichen der Tür gemacht.

Und das Michelsglöckchen, das Sturmglöckchen, das außer am Michelsfeste nur bei höchster Not geläutet werden durfte, es gellte wie ein gewaltiger Wehschrei ins Land. Es gellte über die Berge der Eifel bis nach Tondorf und Blankenheim, über die Berge der Ahr bis zum.Aremberg, über die Vorberge der Eifel bis nach Rheinbach und Meckenheim hinab.

Und da geschah auch das Wunder.

Das alte Weibchen, das auf einmal Riesenkräfte hatte, sang mit einer Stimme, die bis zum Throne des Allmächtigen Gottes, bis in den lobjauchzenden Chor der Engel und Erzengel drang:


Beschütz' mit deinem Schild und Schwert,
Sankt Michael,
die Kirche Gottes auf der Erd '!
Hilf uns hier kämpf'en, die Feinde dämpfen,
Sankt Michael!


Mit einemmal fingen in all den Dörfern der Berge und auch der Ebene alle Glocken in den Türmen, ob heil, ob gebrestig, gewaltig zu wehklagen an. Ob die Küster das Sturmglöckchen vom Michelsberge vernommen hatten? Oder ob wohl ein Kind, ein Greis, ein altes schwaches Weib, das nicht hatte fliehen können, zum Strang gegriffen hatte? Alle Glocken in allen Dörfern haben geläutet! Das ist in mehr als einem Kirchenbuch überliefert. Gut, mag der Wind den Schall begünstigt haben. Genug, es gellte und gellte im ganzen Land, am lautesten, am grellsten in Münstereifel. Gewaltig erbrausten die Stiftsglocken; erbärmlich zeterte das Donatusglöckchen.

Da erschrak der französische Kommandant in seinem Zelt: „Alarm? Steht das Volk auf? Bringt der Herzog von Jülich den Belagerten Unterstützung?" Und erjagte seine Späher ins Land.
Drüben auf dem Michelsberg hatte das Drückchen indessen, als das allgemeine Läuten es seines Glöckneramtes enthob, aus dem nahen Walde Reisig und Holz herbeigeschleppt. Und wenn das Kirchlein auch in Flammen aufging, die Feuer mußten lodern im ganzen Land! Das ewige Lämpchen flackerte noch vor dem Altar. Da kniete sie auf den vermorschten Holzstufen nieder, hob die Hände und sang mit aller Inbrunst und Kraft:


Groß, starker Held, ist deine Kraft,
Sankt Michael!
Ach, komm' mit deiner Ritterschaft!
Sankt Michael!

Und sie zündete ein Reisigbündelchen an der ewigen Lampe an. Bald ging
das Kirchlein in Flammen auf. Da geschah das zweite Wunder: Feuer loderten nun auf allen Höhen!"

"Und der französische Kommandant?" fragte ich voller Spannung.

"Sah das Feuer auf dem Radberg und über sich auf dem Nöthener Berg, bekam Nachricht von den Feuern im ganzen Land, ließ die Zelte abbrechen, das Geschütz wegfahren und war im Morgengrauen in Richtung Blankenheim verschwunden."

Vor Begeisterung sprühten die klugen Äuglein des Direktors: "Und Münstereifel war gerettet!"

"Und das Weibchen?" forschte ich voll Ungeduld.

Der Direktor lächelte verschmitzt: "Davon erzählt der Mund des Volkes, die Heldensage oder die fromme Legende, wie Sie Neunmalgescheiter es nennen mögen, kein Sterbenswörtchen mehr."

"Sie ist bei dem Brand doch nicht zu Schaden gekommen?"

"Nein! Und Bürgermeister und Rat haben sie wohl in ihrem Häuschen in der Heisterbachergasse nicht verhungern lassen." Er sah mich pfiffig von der Seite an: "Der eigentliche Held war ja wohl Sankt Michael."

"Nein", wagte ich heftig zu widersprechen, "der Glaube des armen Weibchens hatte das Wunder vollbracht!"

"Nun, wenn Sie selber es Wunder nennen", nickte der Direktor.

"Ist solch unerschütterlicher Glaube denn kein Wunder?" sagte ich rot vor Scham.

Wir waren in diesen Gesprächen im Dörfchen Mahlberg angelangt. Vor uns zogen Wallfahrer, die muntern Gymnasiasten des Münstereifeler Sankt Michael-Gymnasiums, aber auch die bedachtsamen Bäuerchen der benachbarten Eifelhöhen, den Berg hinauf. Festlich wehte die Fahne von dem Turm des Michaelskirchleins herab. Fröhlich läutete das Glöckchen zum Willkomm.

Und das alte, schöne Michaelslied, das einst dem Drückchen so viel Kraft verliehen, es erscholl kräftig aus jungen und alten Kehlen:


0 unbesiegter Gottesheld,
Sankt Michael!
Komm' uns zu Hilf, zieh mit zu Feld!
Hilf uns hier kämpfen, die Feinde dämpfen,
Sankt Michael!


Ludwig Mathar: Der Michelsberg. Geschichtliche Erzählung aus dem Erftlande. Gekürzt.

In: Heimatkalender für den Kreis Euskirchen 1953, Seite 126-134,

Siehe auch Bad Münstereifel - Stadtgebiet 1, 19: Ludwig Mathar: Sankt Michael, Retter in der Not


*) Ludwig Mathar aus Monschau (*1882 +1958) war von 1899 bis 1901 Schüler und von 1910 bis 1911 Lehrer am Sankt Michael-Gymnasium in Münstereifel

Quelle: Sagen rund um den Michelsberg
Auszüge aus dem Sagenbuch <Im Dunkel der Nacht> Sagen und andere „merkwürdige“ und unheimliche Geschichten aus Bad Münstereifel und Umgebung gesammelt von Sophie Lange
VIII. Abschnitt: Der Michelsberg und der „Decke Tönnes“

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